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Zurück auf Anfang

Autorenbild: FionaFiona

Über Vinyl, sein Comeback und die nicht mehr ganz so neue Retroidee


Für viele Menschen ist die Welt eine Scheibe. Nicht besonders groß. Und mit einem Loch in der Mitte.


Ein kurzer Puster über die Oberfläche wirbelt die letzten Staubkrumen hinfort. Ehrfürchtig legen sie das schwarze Kleinod auf den Plattenteller. Ganz sachte, damit es nicht zerkratzt. So beginnt die Zeremonie. Auf Knopfdruck bewegt sich der Arm des Plattenspielers langsam auf die Scheibe zu. Zunächst horizontal geht die Bewegung in einem fließenden Übergang kurz vor dem Ziel in eine vertikale Landung über. Die Nadel setzt auf der Rille auf. Einige Sekunden knistert ein leises Rauschen durch die Lautsprecher. Bis die ersten Takte erklingen.


Gönn dir Aufwand. Ein Handgriff und jedes Smartphone würde das gewünschte Stück sofort in lupenreinem Klang abspielen.


War nicht die Markteinführung von MP3s 1998 das Ende vom Lied für die Schallplatte, für physische Tonträger überhaupt? Schnell hatte sich das digitale Format zum Liebling der Musikindustrie gemausert: zunächst als Downloads, später dann in Form von Streaming. 2018 wurden bereits 75 Prozent des Gesamtumsatzes durch Streamingangebote erzielt. Weitere elf Prozent durch Downloads.


Doch eine kleine Schar unbeugsamer Musikfans – statistisch gesehen zum Großteil männlich und alterstechnisch irgendwo in ihren 50-ern angesiedelt – hörte nicht auf, den Eindringlingen aus Bits und Bytes Widerstand zu leisten. Immerhin hatten sie zuvor auch schon die CDs zum geordneten Rückzug veranlasst.


MP3s werden, um möglichst klein zu sein, verlusthaft komprimiert. Dafür entfernt man unwiederbringlich Daten vom Original und zwar gezielt diejenigen, die das menschliche Gehör ohnehin nicht wahrnehmen kann. Theoretisch also alles außerhalb der Spanne von 20 Hertz bis 20 Kilohertz. Die Komprimierung macht es möglich, beim Streaming fortlaufend handliche Datenpakete zu übertragen und direkt abzuspielen.


Lobgesänge auf die Überlegenheit digitaler Tonträger stießen bei den Schallplattenenthusiasten auf taube Ohren. Anscheinend sollten sie Recht behalten. So wächst bis heute die Vinyl-Anhängerschaft rasant. 2020 wurden in Deutschland 4,2 Millionen Schallplatten verkauft – 800.000 mehr als im Jahr zuvor. Im ersten Halbjahr 2021 spielten LPs 5,9 Prozent des Gesamtumsatzes der Musikindustrie ein. Tendenz weiter steigend.


Vinyl feiert ein Comeback. Erklärungsversuche:


Seit der Erfindung der Schallplatte ist Musik greifbar. Augenblickhaftes, für die Ewigkeit auf Vinyl gebannt. Eine ähnliche Lebensdauer hatte man sich in den 80-ern auch von CDs erhofft. Entsetzt spitzte die Musikwelt die Ohren, als die Kunde von der begrenzten Haltbarkeit der Plastikscheiben umherging. Durch chemische Prozesse wird die Aluminiumoberfläche im Lauf der Zeit durchsichtig. Spätestens nach 80 Jahren ist es aus mit dem kompakten Musikgenuss. Vorausgesetzt es gibt dann noch CD-Player, um den Verlust festzustellen.


LPs hingegen haben sich seit Jahrzehnten als fester Bestandteil der Popkultur behauptet. Ob als Arbeitsmaterial für Schallplattenalleinunterhalter. Als Kunstobjekt dank aufwendig illustrierter Plattenhüllen. Oder als Fundgrube für Musikfreaks.


Spätestens seit dem Beatles-Album ‚Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band’ ist die Existenz von Hidden Tracks kein Geheimnis mehr. Die Stücke werden in der Tracklist nicht angegeben. Sie lassen sich nur finden, wenn die Nadel nach dem Ende des vermeintlich letzten Titels auf der Auslaufrille kreist. Dabei erstrecken sich die Zugaben von kompletten Liedern, über Improvisationsstücke bis hin zu eingesprochenen Grüßen.


Wem das zu simpel ist, spielt Platten rückwärts ab. Nicht immer kracht eine Kakophonie durch die Lautsprecher. Von Zeit zu Zeit meldet sich auch der Fürst der Finsternis. Womit nicht zwingend Ozzy Osborne gemeint ist. Denn schon öfters glaubten Rückwärtshörer, satanische Botschaften zu vernehmen.


Beispielsweise steht ‚Hotel California‘ von The Eagles seit den 70-ern unter dem Verdacht. US-Politiker und Jugendschützer befürchteten damals, die Platte verwandle die Zuhörer unbewusst in willenlose Teufelsanbeter. In Kalifornien – das mit seinem Hotel womöglich das Tor zur Hölle markiert – wurde sogar überlegt, beschuldigte LPs gänzlich zu verbieten.


Trauriger Höhepunkt des Rückwärts-Hypes: 1988 behauptete der Serienkiller Richard Ramirez, ‚Highway to Hell‘ hätte ihn zu 14 Morden angestiftet. AC/DC äußerten sich über die Vorwürfe bestürzt – und verwirrt, dass er den Aufwand betrieben hatte, die Platte rückwärts anzuhören. Angesichts des eindeutigen Albumtitels.


Doch zurück zur heilen Welt des erneuten Vinyltrends. Denn eindeutig schwingt in diesem ein gerüttelt Maß an Nostalgie mit. Gerade im Unterhaltungsbereich überholen sich technische Neuerungen in immer kürzer werdenden Abständen. MP3s verdrängten die CDs, die zuvor wiederum die Kassetten in die Mottenkiste verbannt hatten. Nun bekommen sie durch das hochwertigere Soundformat der AACs ernste Konkurrenz. Nur schwer lassen sich künftige Entwicklungen auf dem Tonträgermarkt prophezeien. Wie einfach dagegen die Ära, als man zwischen den Alternativen Plattenspieler und kein Plattenspieler wählen musste. Gute, alte Zeit.


Die aktuelle Retrowelle hat eine Flut an neuen LPs angeschwemmt. Retro ist derzeit ohnehin vieles. Blockstreifen, Polaroids bis hin zu gefühlt jeder DJ-Produktion. Und ‚Sex and the City‘ ist ja ebenfalls zurück.


Retro ist hip. Aber irgendwie ist Retro auch voll retro.


Die westliche Kultur hat sich schon immer Anleihen aus der Geschichte bedient. In der römischen Antike war es en Vogue, Stilelemente der griechischen Hochkultur zu übernehmen. Später versuchte Karl der Große, mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation das römische Original nachzuahmen. Auch in der Renaissance und dem Barock galt die römische Antike als das Maß der Dinge. Nicht so während des Klassizismus. Da war es wieder die Hellenistische. Romantik und Neugotik bejubelten das Mittelalter. Erst in der Moderne wollte man sich von früheren Trends lösen. Die Avantgardisten um 1900 manifestierten dafür den Startschuss. Bis die 68-er die ständigen Konsumneuerungen unknorke fanden und mit Secondhandläden und Trödelmärkten wieder an Vergangenes anknüpften. Vintage war geboren.


Heute gibt es parallel so viele Stilrichtungen wie selten zuvor. Oldschool und Newschool. In Form von Vinyl und Music Streaming.


Laut Medienexpertem Marshall McLuhan stellen das tatsächlich schon zu viele Möglichkeiten dar. Seiner Theorie zufolge setzen sich deshalb allmählich Mythen als Normenquellen durch. Mythen vereinfachen das Weltbild. Auch Vinyl hat sich zu einem Mythos entwickelt.


Am 12. August feiern seine Anhänger den ‚Tag der Schallplatte‘. Fühlen Sie sich frei, dann am Nierentisch mit einer Afri Cola darauf anzustoßen.


Ich selbst habe einen fast identischen Essay wie diesen hier übrigens schon einmal vor mehr als zehn Jahren veröffentlicht.


Fiona Pröll

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