Einfach das Erstbeste
- Fiona

- 8. Nov.
- 6 Min. Lesezeit
Weltliteratur beginnt. Und beginnt. Und beginnt.
Jedem Anfang wohnt bekanntlich ein Zauber inne. Und manchmal auch ein Käfer, ein Onkel oder ein barometrisches Minimum.
Erste Sätze sind die Türsteher zu anderen Universen: mal salbungsvoll, mal schneidend, mal mit Rosen im Haar. Sie bauen sich in einem Atemzug auf und fragen: „Was willst du hier?“
Ich hingegen will nichts Geringeres als eine Geschichte erzählen, die sich nur aus solchen Sekundenwundern zusammensetzt. Keine Parodie, kein Puzzlespiel, sondern eine Hommage an die Magie des Beginnens. Einen Miniatur-Roman aus lauter Anfängen. Ein literarisches 3-Sterne-Buffet, bei dem niemand zum Hauptgang kommt. Einen Text, der nicht fortschreitet, sich stattdessen immer wieder erhebt – wie ein ewiger Sonnenaufgang in Buchstabenform.
Denn ganz ehrlich: Der erste Satz ist oft das Beste am ganzen Werk. Danach wird gestorben, gelitten, geliebt, gelogen. Doch der Anfang bleibt unberührt. Wie eine frisch polierte Türklinke, die noch niemand gedrückt hat. Ein Versprechen und gleichzeitig die Erfüllung davon.
Manche sind so endgültig, dass ich mich sofort in sicheren Händen fühle („Nennt mich Ismael“ – danke, reicht). Andere so lakonisch, dass ich mich frage, wie viel Stil in einem Satz stecken kann („Ilsebill salzte nach“ – die Geburtsstunde literarischer Hypertonie).
Ich habe sie gesammelt, diese literarischen Einhörner. Und sie zu einer Erzählung montiert, die sich selbst nicht ganz ernst nimmt, aber immerhin sehr ernsthaft beginnt:
„Wie kommt es, Maecenas, dass niemand mit dem Los zufrieden ist, das ihm die Vernunft oder der Zufall zugeteilt hat, sondern dass jeder die lobt, die ganz anderen Dingen nachgehen?“ (Horaz, Satiren)
„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.“ (Lew Tolstoi, Anna Karenina)
„Ich zögere, diesem fremden Gefühl, dessen sanfter Schmerz mich bedrückt, seinen schönen und ernsten Namen zu geben: Traurigkeit.“ (Françoise Sagan, Bonjour tristesse)
„Ich heiße Sie willkommen im Leben meines Helden.“ (Jean Paul, Hesperus)
„In neue Körper verwandelte Gestalten zu besingen, drängt mich der Sinn.“ (Ovid, Metamorphosen)
„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit)
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.“ (Franz Kafka, Die Verwandlung)
„Es war ganz unmöglich, an diesem Tage einen Spaziergang zu machen.“ (Charlotte Brontë, Jane Eyre)
„Es war unmöglich, sich in ihm zu täuschen.“ (Anne Brontë, Die Herrin von Wildfell Hall)
„Es ist menschlich, Mitleid mit den Leidenden zu haben.“ (Giovanni Boccaccio, Das Decameron)
„Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten, es war das Zeitalter der Weisheit, es war das Zeitalter der Torheit, es war die Epoche des Glaubens, es war die Epoche des Unglaubens, es war die Saison des Lichts, es war die Saison der Finsternis, es war der Frühling der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung, wir hatten alles vor uns, wir hatten nichts vor uns, wir gingen alle direkt in den Himmel, wir gingen alle direkt in die andere Richtung – kurz gesagt, die Zeit war so sehr wie die heutige Zeit, dass einige ihrer lautesten Autoritäten darauf bestanden, sie nur im Superlativ zu betrachten, sei es zum Guten oder zum Schlechten.“ (Charles Dickens, Eine Geschichte aus zwei Städten)
„In einem schwäbischen Dorfe lebte ein Mann, der durch seine sonderbare Lebensart die Aufmerksamkeit seiner Nachbarn auf sich zog.“ (Friedrich Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre)
„Mein Onkel, von den ehrlichsten Grundsätzen, als er ernstlich krank geworden, hat Achtung sich zu verschaffen gewusst; und Besseres wusste er nicht.“ (Alexander Puschkin, Eugen Onegin)
„Kinder, des alten Kadmos jüngste Brut, / warum sitzt ihr hier zu mir gekommen, / mit Kränzen geschmückt?“ (Sophokles, König Ödipus)
„Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein alleinstehender Mann im Besitz eines ansehnlichen Vermögens einer Frau bedarf.“ (Jane Austen, Stolz und Vorurteil)
„Starker Rosenduft durchströmte das Atelier.“ (Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray)
„Ilsebill salzte nach.“ (Günter Grass, Der Butt)
„An einem Sonnabendnachmittag im November, gegen die Dämmerung, färbte sich die weite, offene Heide von Egdon von Augenblick zu Augenblick dunkler.“ (Thomas Hardy, Die Rückkehr des Einheimischen)
„Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen.“ (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften)
„Im Herbste des Jahres 1826, an einem Sonntage, gegen Abend, wanderte ein junger Maler durch das Gebirge.“ (Eduard Mörike, Maler Nolten)
„In der Mitte des Weges unsres Lebens befand ich mich in einem dunklen Walde, weil ich vom rechten Wege abgeirrt war.“ (Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie)
„Der Weg, der sich aussprechen lässt, ist nicht der ewige Weg.“ (Laozi, Daodejing)
„Es war gegen Abend, als ich in die Stadt kam.“ (E. T. A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels)
„Links die Häuser, rechts die Häuser, dazwischen die Straße, auf der Autos, Wagen, Menschen durcheinanderwimmeln.“ (Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz)
„Im Schatten des Hauses, zwischen den Pfosten des Tores, saß ein Knabe und spielte.“ (Hermann Hesse, Unterm Rad)
„Wilhelm Meister war in einem Alter, wo man gewöhnlich glaubt, die Welt müsse sich bald von selbst aufschließen.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre)
„Wenn Sie wirklich davon hören wollen, dann wollen Sie wahrscheinlich zuerst wissen, wo ich geboren bin, und wie meine miese Kindheit war, und was meine Eltern gemacht haben, bevor sie mich bekommen haben, und all das David-Copperfield-Zeug – aber ehrlich gesagt habe ich keine Lust, mich darüber auszulassen.“ (J. D. Salinger, Der Fänger im Roggen)
„Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so dass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärts schreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung der Schule denn auch gewachsen bin.“ (Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull)
„Am Fuße der Berge, die das große Tal der Doubs beherrschen, liegt die kleine Stadt Verrières, eine der reizendsten in ganz Franche-Comté.“ (Stendhal, Rot und Schwarz)
„Seht, wie die Bienen den Duft der blühenden Bäume suchen!“ (Kalidasa, Shakuntala)
„Es war ein heller, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn.“ (George Orwell, 1984)
„Es war Arbeitsstunde, da trat der Rektor ein, ihm zur Seite ein ›Neuer‹ in gewöhnlichem Anzuge, ein Landjunge von etwa fünfzehn Jahren, der sich hinter dem Rektor versteckte, so dass man ihn kaum sah.“ (Gustave Flaubert, Madame Bovary)
„Tonio Kröger war blond und hatte blaue Augen.“ (Thomas Mann, Tonio Kröger)
„Es war an einem Sonntagmorgen im Herbst, als ich zum ersten Male in das Haus des alten Advokaten trat.“ (Theodor Storm, Immensee)
„Es war einmal ein armer Student, der in einer kleinen Kammer wohnte.“ (Ludwig Tieck, Der blonde Eckbert)
„Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.“ (Aristoteles, Metaphysik)
An einem der ersten Tage des Juli – es herrschte eine gewaltige Hitze – verließ gegen Abend ein junger Mann seine Wohnung, ein möbliertes Kämmerchen in der S…gasse, und trat auf die Straße hinaus; langsam, wie unentschlossen, schlug er die Richtung nach der K…brücke ein. (Fjodor Dostojewski, Schuld und Sühne)
„Auf allen Seiten bedroht von Feinden, durchmaß Unrat die Straßen.“ (Heinrich Mann, Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen)
„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (Franz Kafka, Der Prozess)
„Der Herzog von Alba war in Brüssel angekommen.“ (Friedrich Schiller, Don Karlos)
„Leutnant Gustl stand in der Garderobe des Theaters.“ (Arthur Schnitzler, Leutnant Gustl)
„Ich bin nicht Stiller.“ (Max Frisch, Stiller)
„Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt , mein Pfleger beobachtet mich, lässt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.“ (Günter Grass, Die Blechtrommel)
„Nennt mich Ismael.“ (Herman Melville, Moby-Dick)
„Wahrlich, die Wahrheit in der Fiktion zu suchen, ist das Ziel dieses Buches.“ (Cao Xueqin, Der Traum der Roten Kammer)
„Uns ist in alten Mären / wunders vil geseit, von Helden lobebaeren, / von großer Arebeit, von Freuden, Hochgezîten, / von Weinen und von Klagen, von küener Recken Strîten / muget ir nu Wunder sagen.“ (Nibelungenlied)
Arrangiert von Fiona Pröll





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