Eine kurze Geschichte vom Ausharren in all seiner epischen Breite
Menschen warten. Auf den Bus. Aufs Christkind. Auf die Volljährigkeit. Auf die große Liebe. An der Ampel. Dass die Farbe trocknet. Dass der Teig aufgeht. Von der Sprechstundenhilfe aufgerufen zu werden. Auf den Lieferando-Mann. Auf Schnee. Auf eine Gehaltserhöhung. Auf die Rente. An der Reihe zu sein. Auf gute Neuigkeiten. Auf bessere Zeiten. Auf ein Ende der Pandemie.
Durchschnittlich fünf Jahre seines Lebens verbringt ein Bundesbürger damit, mehr oder minder geduldig auszuharren. Den derzeitigen Shutdown noch nicht mit eingerechnet. Die jüngere Geschichte zeigt, dass in dieser Statistik tatsächlich Luft nach oben ist. So soll der Otto Normal-Sowjetgenosse ein Drittel seines Lebens wartend zugebracht haben.
Gelegenheiten, sich in Geduld zu üben, gibt es reichlich. Eigentlich beste Voraussetzung, um es darin bis zur Perfektion zu bringen.
„Unbezwinglich ist, wer warten kann“, lautet ein deutsches Sprichwort. Ein wissenschaftlich durchaus fundiertes Sprichwort, genauer gesagt. Walter Mischel, der als Pionier der Willenskraftforschung gilt, entwickelte Ende der 60er-Jahre mit seinen drei Töchtern am heimischen Küchentisch die sogenannten Marshmallow-Experimente. Bei der Studienreihe wurden Kinder vor die Wahl gestellt: Entweder sie aßen die Süßigkeiten gleich oder sie warteten 15 Minuten, bis der Versuchsleiter zurückkam, um ihnen die doppelte Portion zu geben. Dreiviertel der Jungen und Mädchen ließen sich auf die Wartezeit ein; mit dem Ergebnis, dass ein Drittel von ihnen standhaft durchhielt. Die Engelsgeduld dieser Kinder brachte ihnen im weiteren Leben entscheidende Vorteile: z. B. erzielten sie bessere Schulnoten, absolvierten höhere Bildungsabschlüsse und konnten mit Stress souveräner umgehen.
Die Penelopes dieser Welt, die im Zweifelsfall 20 Jahre unbeirrt mit Stricken und Warten zubringen, befinden sich also auf der Erfolgsstraße. Wie schrieb rund 800 Jahre später schon Ovid: Was lange währt, wird endlich gut.
Dass der Odysseus-Gattin beim Stricken der Geduldsfaden nicht riss, war kein Zufall. Zeit wird subjektiv erlebt. Wer die Hände in den Schoß legt, langweilt sich schnell. Die Devise lautet: Beschäftigung. In einem Experiment ließ die Psychologin Madalina Sucala einen Teil der Probanden in einem Text alle Wörter mit dem Anfangsbuchstaben „S“ markieren. Nicht gerade die spannendste Art, die Zeit totzuschlagen. Die übrigen Versuchsteilnehmer sollten sich zusätzlich Synonyme zu den Wörtern überlegen – und fanden, dass die Zeit bei der Aufgabe viel schneller verging. Wer sich in eine Tätigkeit vertieft, richtet seine Aufmerksamkeit weniger auf die Uhr.
Eine Erkenntnis, die Rotznasen beim Abbüßen ihrer Strafe auf der stillen Treppe vermutlich kaum weiterbringt. Aber ein Life Hack für alle Halbstarken, das nächste Nachsitzen zur Erledigung der Hausaufgaben zu nutzen oder, wenn sie aufs Zimmer geschickt werden, dasselbige einmal aufzuräumen. Allerdings bleibt abzuwarten, ob dieser Tipp Gehör findet.
Zeit und Raum sind relativ, wie bekanntlich Albert Einstein entdeckt hat. Und allem Anschein nach waren sie das auch schon vor der Speziellen Relativitätstheorie von 1905 und der Allgemeinen Relativitätstheorie von 1916. Schuld ist das Licht, denn das bewegt sich immer gleich schnell. Darum kann die Zeit nicht immer gleich schnell vergehen und der Raum auch nicht immer gleich groß sein. Geschwindigkeit entspricht Strecke durch Zeit, V = s/t. Dabei beträgt das V von Licht stets flotte 299.792.458 m/s. Je mehr man sich der Lichtgeschwindigkeit annähert, desto langsamer vergeht die Zeit. Ist Lichtgeschwindigkeit erreicht, bleibt die Zeit stehen.
Hätte das weiße Kaninchen aus „Alice im Wunderland“ also noch eine ordentliche Tempo-Schippe zugelegt, hätten seine Zeitmanagement-Probleme der Vergangenheit angehören können. Zugegeben, da war jetzt ein bisschen zu viel Fantasie im Spiel. Denn laut Einsteins Formel e=mc² berechnet sich die Energie aus der Masse mal der Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat. Deshalb wächst die Masse mit der Geschwindigkeit und braucht entsprechend mehr Energie für den Antrieb. Für Lichtgeschwindigkeit z. B. einer Rakete wäre damit mehr Energie nötig als überhaupt vorhanden.
Doch lieber abwarten und mit dem verrückten Hutmacher Tee trinken? Gerade Menschen aus westlichen, individualistischen Kulturkreisen fällt das mitunter verdammt schwer. Dem Anthropologen und Ethnologen Edward T. Hall zufolge erleben inter alia Deutsche die Zeit linear. Minuten, Stunden und Tage haben einen Anfang und ein Ende. Als begrenzt verfügbare Ressource können sie folglich auch verschwendet werden. Kapitalistische Vorstellungen lassen an dieser Stelle grüßen. Frei nach Benjamin Franklin ist Time immerhin Money. Auf der linearen Zeitachse ereignen sich Dinge, wenn‘s wie geschmiert läuft, ordentlich nacheinander. Erzwungene Unterbrechungen bringen den Zeitplan ins Stottern und werden daher als Belastung wahrgenommen.
Für Menschen aus traditionell-kollektivistischen Kulturen hingegen, wie etwa Teilen Asiens, Südamerikas und Afrikas, stellt sich die Zeit als unendliche Geschichte dar. Die Abgrenzung von produktiven und unproduktiven Phasen verliert an Bedeutung, wenn man alle Zeit der Welt hat. Warten, schildert der Soziologe Rainer Paris, ist kein Selbstzweck. Es richtet sich auf ein erhofftes Ziel. Zwischen diesem und dem Ausharrenden steht die Zeit. 51 Jahre, neun Monate und vier Tage wartet Florentino Ariza in „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ auf Fermina Daza. Gut Ding will Weile haben.
„Entweder ist nichts verloren oder alles. Ruhig sein können und ruhig sein müssen – kömmt es nicht auf eines?“, wusste schon Emilia Papa Galotti zu belehren. Ungeduld ist Angst, so Stefan Zweig. Und die essen Seele auf.
Zumeist geht es beim Warten darum, dass sich am Ende eine Situation verbessern soll. Menschen sind sogar bereit, mehr Schmerzen zu ertragen, wenn damit endlich das Happy End erreicht wird. Kahnemann und Kollegen stellten Versuchsteilnehmer vor zwei unangenehme Aufgaben. Zuerst mussten sie eine Hand 60 Sekunden in 14 Grad kaltes Wasser tauchen, danach die andere 90 Sekunden in 15 Grad kaltes Wasser. Anschließend wurden die Teilnehmer gefragt, welche Variante sie wiederholen würden. Die Mehrzahl wählte die zweite, die finale Aufgabe, da sie als weniger schlimm im Gedächtnis geblieben war.
Mit den Worten des Evangelisten Lukas: „Und die Menschen werden verschmachten vor Furcht und vor Warten der Dinge, die da kommen sollen.“ Alles besser; Hauptsache, nicht festzusitzen und ausharren zu müssen. Diese Logik machten sich auch die Betreiber des George Bush Intercontinental Airport in Houston zunutze. Die Fluggäste beschwerten sich regelmäßig, dass die Gepäckvergabe zu lange dauerte. Neue Mitarbeiter wurden eingestellt, wodurch die Wartezeit sank. An der Unzufriedenheit der Passagiere änderte das jedoch nichts. Ihnen erschien das Warten weiterhin lang, weil sie von der Ankunftshalle in nur wenigen Schritten bei den Rollbändern angelangten. Dem konnte Abhilfe geleistet werden: Die Gepäckvergabe wurden an das andere Ende des Gebäudes verlegt. Seither laufen die Reisenden fidel quer durch den Flughafen, wo dann ihr Koffer bereits auf dem Band liegt. Der heute leicht angestaubte französische Begriff für „Wartesaal“ „Salle des Pas-Perdus“, zu Deutsch „Saal der verlorenen Schritte“, bekommt hier eine ganz neue Bedeutung.
Glücklicher Estragon, der beim Warten auf Godot einen Wladimir an seiner Seite hat. Das macht das ganze Theater mit dem Ausharren ein Stück weit weniger absurd; für ihn zumindest. Shumin Feng und Kollegen baten Menschen an Bushaltestellen, einen Fragebogen auszufüllen und eine Schätzung abzugeben, wie lange sie sich schon geduldeten. Denjenigen, die mit einem Begleiter unterwegs waren, kam das Warten in der Regel kürzer vor.
Mit diesen Zeilen endet nun der vier- bis fünfminütige Zeitvertreib des vorliegenden Essays. Sie können Sie ihn aber noch einmal durchlesen und sowohl alle Wörter markieren, die mit einem „S“ beginnen, als auch jeweils Synonyme dazu notieren. Worauf warten Sie?
Fiona Pröll
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