Warum wir den Alltag wahlweise lieben oder hassen, in jedem Fall aber nötig haben
Sie brauchen gar nicht so unbeteiligt gucken. Mit Sicherheit gehören Sie doch auch dazu; sowas lässt sich kaum verheimlichen. In jedem steckt ein Wiederholungstäter. Und durch die Lockerung der Corona-Maßnahmen wird er nun allmählich wieder auf freien Fuß gesetzt.
„Nichts ist mächtiger als die Gewohnheit“, befand Ovid. Er kannte Covid-19 nicht. Der Alltag: plötzlich auf den Kopf gestellt. Stets vorhandene Automatismen: abrupt aus den Angeln gehoben, wenn nicht gar mit einem Mal verboten. Gewohnheitstiere wurden ihres natürlichen Lebensraums beraubt.
Langsam soll jetzt der Alltagstrott – bitte entschuldigen Sie den Pleonasmus – zurückkehren, zurückkehren dürfen. Routine is back in town. Ob gekommen, um zu bleiben, muss die Zukunft zeigen.
Übersetzt bedeutet das französische Wort Routine so viel wie „Wegerfahrung“. Ein anschaulicher Begriff: Auf dem Lebensweg sammelt man Fähigkeiten, konkrete Handlungsabfolgen, die nach und nach in Fleisch und Blut übergehen. Je öfter sie wiederholt werden, desto schneller und sicherer lassen sie sich ausführen. Eine neue Gewohnheit wird geboren. Gratulation, es ist ein kleines Schema F.
Routinen laufen immer und immer und immer wieder in der gleichen Schleife ab. Dem Sozialpsychologen Bas Verplanken zufolge ist das Gehirn ständig auf der Hut nach auslösenden Reizen. Dazu zählen Ereignisse, etwa eine Push-Benachrichtigung auf dem Handy, ebenso wie Stimmungen, zum Beispiel Nervosität. Der Autopilot schaltet sich ein. Zum x-ten Mal wird die typische Handlung abgespult. Man greift zum Smartphone oder zündet sich eine Zigarette an. Schon springt das Belohnungssystem des Gehirns an. Das Gefühl, alles richtig gemacht zu haben; man ist wieder auf aktuellem Stand, die Sucht gestillt. Nochmal, nochmal!
Alltägliches Einerlei will gelernt sein. Führt man eine Bewegung erstmals aus, rattert es im Stirnhirn-Bereich gewaltig. Konzentration ist gefragt. Damit das Vorgehen zur Regel wird, benötigt es die Unterstützung vom Kleinhirn, wo Koordination und Lernen von Bewegungsabläufen angesiedelt sind, wie auch von den Basalganglien, die Routinen abspeichern.
Dabei sind automatische Abläufe durchaus anspruchsvoller als ihr Ruf. Das Gehirn, der alte Streber, merkt sich lieber komplizierte Handlungen, die dann bombenfest verankert werden. Einmal die Handhabung eines Musikinstruments falsch gelernt, lässt sich das nur mühsam umtrainieren.
Um Novalis zu zitieren: „Unser Alltagsleben besteht aus lauter erhaltenden, immer wiederkehrenden Verrichtungen.“ 30 bis 50 Prozent der täglichen Entscheidungen werden durch Gewohnheiten geregelt. Spießig? Vielleicht. Zwanghaft? Mag so wirken. Doch in jeder neuen Situation kommen weitere Angewohnheiten hinzu. Tagaus, tagein. Bas Verplanken machte in seiner ersten Vorlesung im Semester ein Foto vom Hörsaal. Eine Woche später saßen die Studierenden wieder auf denselben Plätzen.
Der gleiche Trott dreht seine Runden aber nicht nur auf der Verhaltensebene. Genauso rotieren Denk- und Gefühlsgewohnheiten in der Endlosschleife. Automatisch wird entschieden, was man von sich und anderen hält, was als moralisch korrekt und inkorrekt beurteilt wird. Blitzschnell ist die mentale Schublade auf und alles verstaut.
Eintönigkeit klingt nicht attraktiv. Hat sie nie; wird sie wohl auch künftig kaum. „Das Tagtägliche erschöpft mich!“, klagte dereinst Ludwig van Beethoven. Derselbe Ludwig van Beethoven, der jeden Morgen genau 60 Kaffeebohnen abzählte, um sich eine Tasse aufzubrühen. Für einen munteren Start in den grauen Alltag.
Schlechte Angewohnheiten kosten Zeit, obendrein können sie der Gesundheit schaden. Verschiedene Formen von Süchten finde sich in Routinen wieder. Eine gefährliche Tretmühle.
Hingegen: „Gute Gewohnheiten sind es wert, sie nahezu fanatisch zu betreiben“, resümierte John Irving. Tatsächlich zählen die meisten Routinen zur Kategorie der sinnvollen Rituale.
Nachdem Pjotr Ilitsch Tschaikowski irgendwo irgendwann gelesen hatte, man solle täglich zwei Stunden spazieren gehen, befolgte er diese Regel streng. Laut seinem Bruder fast schon mit abergläubischer Verbissenheit, „als würde er, wenn er fünf Minuten früher nach Hause käme, auf der Stelle krank oder großes Unheil bräche über die Familie herein.“ Geschadet hat ihm die Bewegung jedenfalls nicht.
Ebenso wollte sich Immanuel Kant etwas Gutes tun, indem er sich – und damit praktisch allen – nur eine Pfeife pro Tag erlaubte. Sie soll über die Jahre jedoch immer größer geworden sein. Naja, zumindest war das moralische Gesetz in ihm vorhanden.
Überhaupt befürwortete Kant eine kategorische Lebensführung. Vier Jahrzehnte lang gab er die gleichen Kurse an der Universität. Königsberg anno 17-soundso: Das neue Vorlesungsverzeichnis ist da; menno, laufen mal wieder nur Wiederholungen.
Verhaltensforscher fanden heraus, dass das Murmeltier möglichst früh loslegen sollte, täglich zu grüßen. Wenn Kinder Routinen entwickeln, gelingt ihnen vieles besser. Ihr Vertrauen wächst, wodurch sie weniger Angst vor stressigen Situationen hegen.
Tägliche Routinen steigern die Produktivität. Dank eines komplett durchgetakteten Tagesablaufs gelang es Wolfgang Amadeus Mozart, sein Geld als Klavierlehrer zu verdienen, zu komponieren und zudem Konzerte zu geben.
Wer sich eine Gewohnheit aneignet, der schränkt freiwillig seine Wahl ein. Man leistet sich den Verzicht – zugunsten mehr Zeit und Energie für wichtigere Dinge. Vor dem Kleiderschrank soll Mark Zuckerberg deshalb konsequent zum grauen T-Shirt greifen.
Mehr noch; Aug‘ in Aug‘ mit einer hochkomplexen Welt wären Menschen ohne Rituale heillos überfordert, da reizüberflutet. Der CEO Bewusstsein hat die täglichen To-dos an Routine-Agenten delegiert, seine zuverlässigsten Mitarbeiter überhaupt. Noch dazu verbrauchen sie erheblich weniger Energie als rationales Denken. Das Bewusstsein behält den Überblick und kann sich Richtungsweisendem widmen.
Durch die schrittweise Aufhebung der Pandemie-Bestimmungen befindet sich der Alltag augenblicklich auf dem Weg zurück in die Zukunft. Die ideale Gelegenheit, die eine oder andere Marotte hinter sich zulassen. Das ist selbstredend alles andere als einfach.
„Eine Angewohnheit kann man nicht aus dem Fenster werfen. Man muss sie die Treppe hinunterboxen, Stufe für Stufe“, urteilte Mark Twain. Routinen bilden einen Teil der Persönlichkeit. Sie zu überwinden kostet die Kraft, den eigenen inneren Widerstand zu besiegen. Da hilft nur eins: das neue Verhalten üben, üben, üben.
Dies dachte sich ebenfalls Benjamin Franklin. Sein bescheidener Plan: innerhalb von 13 Wochen moralische Perfektion erlangen. In jeder von ihnen fokussierte er sich auf eine bestimmte Tugend, wie zum Beispiel Fleiß. Er war überzeugt, nach jeweils sieben Tagen würde der strikt gelebte Wert zur Gewohnheit.
Zählt Optimismus als Tugend? Entsprechend einer Studie der Gesundheitspsychologin Phillippa Lally dauert es 66 Tage, bis ein Automatismus entsteht. Wenn’s richtig doof läuft, lässt die Angewohnheit sogar mehr als 250 Tage auf sich warten.
Seien Sie sich sicher: Mit Ihren neuen oder angestammten Routinen befinden Sie sich in bester Gesellschaft. Letztlich also überall derselbe Zirkus. Nur andere Clowns.
Fiona Pröll
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